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| Der nukleare Alptraum könnte bald schon real werden
22.10.2004
Washington - Derzeit gibt es auf der Welt rund 20 000 Atomwaffen. Vor einigen Jahren waren es noch 65 000. Es muß wohl als eines der größten Wunder der Neuzeit bezeichnet werden, daß in den 59 Jahren seit Hiroshima und Nagasaki keine dieser Waffen eingesetzt worden ist. Künftige Generationen mögen einmal zu dem Schluß kommen, daß weder der Irak noch der Terrorismus die größte Gefahr darstellte, mit der sich die Vereinigten Staaten und die Welt im Jahr 2004 konfrontiert sahen. Die Hauptgefahr war vielmehr der Zusammenbruch jenes internationalen Systems, das sechs Jahrzehnte lang den nuklearen Holocaust von uns abwendete. Anders gesagt: Die größte außenpolitische Herausforderung, vor der der nächste US-Präsident steht, könnte die Frage sein, wie mit Nordkorea und dem Iran zu verfahren ist.
Nordkorea behauptet von sich selbst, Atomwaffen zu besitzen. Beobachter veranschlagen deren Zahl auf sechs bis acht. Der Iran leugnet, nach Kernwaffen zu streben. Diese Beteuerungen werden jedoch von Experten in Zweifel gezogen.
Inzwischen zählt die Welt acht Atommächte: die USA, Rußland, China, Indien, Pakistan, Israel, Großbritannien und Frankreich. Die Gefahr ist jedoch nicht, daß sich die Zahl um zwei erhöht. Die Gefahr ist, daß das Überschreiten der nuklearen Schwelle durch den Iran und Nordkorea andere Länder dazu verleiten könnte, es den beiden gleichzutun. Dann würde das Risiko eines Nuklearkonflikts zunehmen - durch Fehleinschätzungen, Präventivschläge, Diebstahl, einen globalen Markt für Waffentechnologie und Terrorgruppen.
Seit den fünfziger Jahren hat ein auf zwei Säulen ruhendes System das atomare Inferno verhindert. Die erste Komponente war unter dem Begriff "wechselseitige gesicherte Zerstörung" bekannt. Amerikaner und Sowjets griffen einander nicht an, weil sie wußten, daß sie in diesem Fall die eigene Auslöschung zu erwarten hatten. Die zweite Säule des Systems war der Nonproliferationsvertrag aus dem Jahr 1968. Dieser verpflichtet die fünf großen Atommächte USA, Rußland, China, Großbritannien und Frankreich dazu, keine Waffentechnologie an Dritte weiterzugeben. Alle anderen Unterzeichner des Vertrags, immerhin 170 Länder, entsagen dem Besitz von Atomwaffen und erlauben Inspektionen der Internationalen Atomenergiebehörde auf ihrem Territorium. Nordkorea und der Iran haben den Vertrag unterzeichnet, nicht aber Indien, Pakistan, Israel und Kuba.
Würden Nordkorea und der Iran zu Atommächten aufsteigen, wäre der Vertrag Makulatur. Denn seine Vereinbarungen und Verpflichtungen hätten sich als wirkungslos erwiesen, die verbliebene Selbstbeschränkung als Folge der "wechselseitigen gesicherten Zerstörung" könnte dahin sein.
Sollte der Iran in den Kreis der Atommächte aufrücken, würden die Türkei, Ägypten oder Saudi-Arabien dann nicht nachziehen? Kurzum, falls Nordkorea und der Iran atomar aufrüsten, wäre eine Schwelle überschritten, die ebenso unvorhersehbare wie erschreckende Konsequenzen hat. Unglücklicherweise ist nicht klar, wie wir dies verhindern könnten. Da wir nicht genau wissen, wo sich die nordkoreanischen Atombomben befinden, könnten Luftschläge das Nuklearpotential des Landes wohl kaum ausschalten. Nicht viel besser sieht es am Persischen Golf aus. Amerikanische oder israelische Luftschläge können die atomaren Produktionsstätten des Iran zerstören. Doch zu welchem Preis? Der Iran könnte sich brutal rächen.
Großbritannien, Frankreich und Deutschland haben Teheran dazu gedrängt, von seinen Plänen zur Urananreicherung Abstand zu nehmen. Im Gegenzug garantieren sie Brennstoffnachschub für die Reaktoren der Islamischen Republik sowie das Versprechen von Wirtschaftshilfe. Kerry hat diesen Ansatz aufgegriffen. Auch die Bush-Administration unterstützt ihn, wenngleich mit einer gehörigen Portion Skepsis. Kerry könnte also besser mit den Europäern und mit den Iranern interagieren. Für Bush spricht, daß er mehr Respekt einflößt. Der Iran könnte sich zu einer diplomatischen Lösung bereit finden, wenn er Gefahr läuft, seine Atomanlagen durch Luftangriffe zu verlieren. Im Falle Nordkoreas ließe sich ein ähnlicher Handel denken. Pjöngjang gibt seine Waffen ab und willigt in Inspektionen ein. Im Gegenzug erhält es eine Sicherheitsgarantie von den USA, diplomatische Anerkennung und Wirtschaftshilfe. Die dahinterstehende Idee besagt, ein Land dahingehend zu "bestechen", keine Atommacht zu werden. Im Geiste dieser Idee hatte die Clinton-Regierung bereits 1994 ein weitreichendes Abkommen mit Nordkorea geschlossen. Doch Pjöngjang hat sich am Ende nicht daran gehalten. Keiner dieser Deals wird funktionieren, wenn ein Land darauf aus ist, Atomwaffen zu besitzen und diese nicht nur als Verhandlungsmasse einzusetzen.
Wenn es eine Hoffnung gibt, dann läßt diese sich mit einem Paradox umreißen: Ein Land mit Atomwaffen erweitert zwar seine Macht enorm, vergrößert aber ebensosehr die Gefahr, ausradiert zu werden. Der neue Amtsinhaber in Washington muß Nordkoreaner und Iraner wie auch immer davon überzeugen, daß sie sich, und mit ihnen die ganze Welt, auf dem Weg in den Wahnsinn befinden.
Der Autor ist Kolumnist der "Washington Post".
A. d. Amerik. von Daniel Eckert
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