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Ein gewaltiger und gefährlicher Umbruch

06.08.2002 

Sir Joseph Rotblat erhielt gemeinsam mit der Wissenschaftlerorganisation Pugwash, deren Mitbegründer er war, 1995 den Friedensnobelpreis. Der 93-jährige Nuklearphysiker beteiligte sich in den 40er Jahren am US-amerikanischen Manhattan-Projekt zur Entwicklung einer Atombombe, wandte sich später von dieser Forschung ab und kämpft seitdem für eine atomwaffenfreie Welt. Am 24. Mai hielt er in Bradford/England einen Vortrag, der im INESAP Information Bulletin 20 (August 2002) veröffentlicht wird. Wir dokumentieren den Vortrag heute, 57 Jahre nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroschima, in Auszügen. Übersetzung: Regina Hagen

Wir müssen der Wirklichkeit in ihre hässliche Fratze schauen. Die Initiativen zur Abschaffung von Atomwaffen verlaufen nicht sehr erfolgreich; um präzise zu sein, sie sind sogar äußerst erfolglos. Nicht nur ist die Kampagne, mit der INES (International Network of Engineers and Scientists for Global Responsibility), Pugwash und viele andere Gruppen die Welt von den Atomwaffen befreien wollen, zum Stillstand gekommen, sondern der Einsatz dieser Waffe könnte bald fester Bestandteil der Militärstrategie werden, wenn es nach dem kürzlich bekannt gewordenen Nuclear Posture Review (Bericht zur Überprüfung der Atomwaffendoktrin der USA) geht. (. . .)

Ich will damit keineswegs die Erfolge der Atomwaffengegner klein reden. Ich kann das zwar nicht beweisen, aber ich bin davon überzeugt, dass diese Gruppen großen Anteil daran haben, dass ein Atomkrieg bislang verhindert werden konnte. Michail Gorbatschow hat uns dies direkt bestätigt, aber wir dürfen uns nicht auf unseren Lorbeeren aus der Vergangenheit ausruhen. Wir haben unsere Arbeit noch nicht zu Ende gebracht. Und auch wenn die Aussichten eher düster sind, müssen wir uns doch aufrappeln und unsere Kampagne für die Abschaffung von Atomwaffen wieder aufnehmen. Mit diesem Vortrag möchte ich eindringlich zu einer neuen Massenkampagne aufrufen, und ich schlage vor, sie vor allem auf
juristische und moralische Argumente zu stützen.
Die Enthüllungen des Nuclear Posture Review haben uns schockiert: Mit diesem Bericht verabschieden sich die USA von der bisherigen Einsatzdoktrin, in der Atomwaffen als allerletzter Ausweg galten, und machen deutlich, dass die neue Strategie Atomwaffen in die konventionelle Kriegsplanung mit einbezieht. Das ist ein gewaltiger und gefährlicher Umbruch in der gesamten Begründung von Atomwaffen.
Aber eigentlich hätten die Enthüllungen des Nuclear Posture Review uns nicht so überraschen dürfen. Auf den ersten Blick stark von den Ereignissen des 11. September geprägt, sind sie in Wirklichkeit ein ungeheuerlicher Ausdruck der politischen Linie, die die Vereinigten Staaten unter der Hand schon seit Hiroschima und Nagasaki verfolgen, oder sogar schon länger, im Widerspruch zu offiziellen Verlautbarungen über den Einsatz des Landes für nukleare Abrüstung. (. . .)

Heuchelei war (schon immer) das vorherrschende Muster der Nuklearpolitik der US-Regierung. Sie fühlt sich einerseits unter dem Druck der Staatengemeinschaft, die bei der Vollversammlung der Vereinten Nationen Jahr für Jahr mit großer Mehrheit entsprechende Resolutionen verabschiedet, gezwungen, Lippenbekenntnisse abzulegen für eine Politik der nuklearen Abrüstung mit dem Ziel der vollständigen Abschaffung von Atomwaffen. So kam es (1968) zum Abschluss des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV), dem nur vier Mitglieder der Vereinten Nationen noch nicht beigetreten sind. Gemäß dem NVV haben sich die 182 Nichtatomwaffenstaaten der Erde verpflichtet, keine Atomwaffen zu erwerben, und im Gegenzug haben die fünf offiziellen Atommächte versprochen, ihre Atomwaffen abzuschaffen.

Allerdings war der wichtigste Artikel des NVV, Artikel VI, etwas unklar formuliert, und lieferte den Falken die Rechtfertigung für die Beibehaltung der Atomwaffen, bis die allgemeine und vollständige Abrüstung sämtlicher Waffen erreicht sei. Aber vor zwei Jahren wurde diese Unklarheit - wiederum unter dem Druck der Öffentlichkeit - in einer Erklärung beseitigt, die die Überprüfungskonferenz 2000 des NVV abgab. Diese Erklärung wurde von allen fünf offiziellen Atomwaffenmächten unterzeichnet und beinhaltet ". . . eine unzweideutige Verpflichtung der Atomwaffenmächte, die vollständige Abschaffung ihrer Atomwaffenarsenale zu betreiben bis zur vollständigen nuklearen Abrüstung, zu der alle Vertragsparteien nach Artikel VI verpflichtet sind".

Somit haben sich die Vereinigten Staaten und die anderen offiziellen Atomwaffenmächte - China, Frankreich, Russland und Großbritannien - formell und unzweideutig zur Abschaffung ihrer kompletten Nukleararsenale verpflichtet. Die Schaffung einer atomwaffenfreien Welt ist eine rechtlich einklagbare Verpflichtung sämtlicher Unterzeichnerstaaten des NVV.

Andererseits haben wir es de facto mit der Nuklearstrategie der erweiterten Abschreckung zu tun, die implizit die Aufrechterhaltung der Nukleararsenale auf unbestimmte Zeit bedeutet.
Seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich die Nuklearstrategie der USA effektiv zunehmend am Einsatz von Atomwaffen orientiert. Direkt nach dem Ende des Kalten Krieges sah die US-Politik, mit Unterstützung zahlreicher Nato-Länder, den Einsatz von Atomwaffen nur als allerletzten Ausweg an, also gegen einen Angriff mit Atomwaffen. Die Überprüfung der Nukleardoktrin von 1994, die unter der Regierung Clinton durchgeführt wurde, erwähnte zum ersten Mal ausdrücklich den Einsatz von Atomwaffen als Reaktion auf einen Angriff mit chemischen oder biologischen Waffen. Der aktuelle Bericht zur Atomwaffendoktrin geht sogar noch weiter, er macht Atomwaffen zu dem Mittel, mit dem der Weltfriede aufrechterhalten werden soll. Wenn das der Sinn von Atomwaffen ist, dann werden diese Waffen gebraucht, solange Streitigkeiten durch Rückgriff auf militärische Konfrontation gelöst werden - mit anderen Worten, solange Krieg eine anerkannte soziale Institution ist. Eine solche politische Leitlinie ist in einer zivilisierten Gesellschaft aus vielerlei Gründen nicht akzeptabel: aus logischen, politischen, militärischen, juristischen und ethischen. Mir
geht es hier vor allem um die beiden letzten - Recht und Moral.

Die Nuklearpolitik der USA ist aus logischen Gründen kontraproduktiv. Wenn bestimmte Länder - einschließlich der militärisch mächtigsten - sagen, dass sie Atomwaffen für ihre Sicherheit brauchen, dann kann diese Sicherheit doch nicht anderen Ländern verwehrt werden, die sich tatsächlich unsicher fühlen. Weiterverbreitung von Atomwaffen ist daher die logische Konsequenz der Atomwaffenpolitik der USA. Die USA und ihre Verbündeten können andere Ländern nicht am Erwerb von Atomwaffen hindern, solange sie selbst daran festhalten. Die Politik der erweiterten Abschreckung untergräbt die Nichtverbreitungspolitik.

Und es gibt noch ein weiteres logisches Argument, das die Abschreckung grundsätzlich in Frage stellt, und zwar die Annahme, dass beide Seiten in einem Konflikt rational denken und handeln; dass sie zu einer realistischen Einschätzung der Risiken fähig sind, die mit einer beabsichtigten Handlung verbunden sind. Dies würde auf irrationale Führer aber nicht zutreffen, beispielsweise nicht auf einen Hitler.
Sogar ein rationaler Führer kann in einem Krieg irrational handeln, wenn er vor einer Niederlage steht. Oder er könnte durch Massenhysterie zu einer irrationalen Entscheidung gedrängt werden oder durch religiösen Fanatismus oder nationalistische Verblendung. Und genau damit sind wir heute konfrontiert. Abschreckung würde sicherlich nicht bei Terroristen
wirken, die die Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens nicht respektieren.
Die Politik der erweiterten Abschreckung ist aus politischen Gründen inakzeptabel. Sie ist in höchstem Maße diskriminierend, da sie einigen wenigen Nationen - praktisch einer einzigen Nation - erlaubt, sich selbst gewisse Rechte herauszunehmen, beispielsweise die Rolle des Weltpolizisten, der nukleare Proliferatoren mit Sanktionen belegt oder ihnen sogar direkt mit Militäreinsätzen droht. Solche Reaktionen sind den Vereinten Nationen vorbehalten. Ja, sie stehen sogar in direktem Widerspruch zum Zweck der Vereinten Nationen, einer Organisation, die speziell zur Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der
Sicherheit gegründet wurde.

Die Politik der erweiterten Abschreckung führt überdies zur ständigen Polarisierung der Welt, wobei einigen Ländern der Schutz eines mächtigen Atomwaffenstaates angeboten wird, während andere unter dem Schutz eines anderen Atomwaffenstaates oder ganz ohne Schutz dastehen.

Diese Politik ist vor dem Hintergrund von Terrorangriffen aus militärischen Gründen nicht glaubwürdig. Wie die Ereignisse vom 11. September gezeigt haben, geht von Terroristengruppen eine gewaltige Bedrohung der Sicherheit aus, eine Bedrohung, die den Einsatz aller möglichen Arten von Massenvernichtungswaffen einschließt, auch nuklearer. Die vielen tausend Atomwaffen, die sich noch immer in den Arsenalen befinden, sind gegen Terroristen ganz einfach deshalb nutzlos, weil Terroristengruppen in der Regel kein identifizierbares Ziel abgeben - es sei denn, der Tod von tausenden unschuldigen Menschen wird als Kollateralschaden abgetan und folglich in Kauf genommen.

Gleichzeitig wächst die Bedrohung gerade dadurch, dass es Atomwaffen oder atomwaffenfähige Materialien gibt, da diese Materialien auf die eine oder andere Art in die Hand von Terroristen gelangen können.

Erweiterte Abschreckung ist aus juristischen Gründen inakzeptabel. Die Vereinigten Staaten und 186 andere Länder, also 98 Prozent der UN-Mitglieder, haben den NVV unterzeichnet und ratifiziert. Nach der Klarstellung der Überprüfungskonferenz 2000 ist die Lage vollkommen eindeutig: Die Politik der erweiterten Abschreckung und die damit verbundene Beibehaltung von Atomwaffen auf unbestimmte Zeit sind ein direkter Bruch des rechtlich bindenden Nichtverbreitungsvertrages. Es ist eine conditio sine qua non (unerlässliche Bedingung; d. Red.) für eine zivilisierte Gesellschaft, dass die Nationen ihre rechtlichen Verpflichtungen erfüllen und völkerrechtliche Verträge einhalten.

Vor allem aber ist nukleare Abschreckung aus ethischen Gründen inakzeptabel. Das gesamte Konzept der nuklearen Abschreckung basiert auf dem Glauben, dass die Androhung von Vergeltung ernst gemeint ist, dass Atomwaffen tatsächlich auf eine Aggression hin eingesetzt würden; andernfalls würde der Bluff bald auffliegen. George W. Bush muss davon überzeugen, dass er auf Grund seiner Persönlichkeitsstruktur überhaupt in der Lage wäre, den Knopf zu drücken und die umfassende Zerstörung zu entfesseln, wobei nicht nur der vermeintliche Aggressor, sondern vor allem unschuldige Menschen betroffen wären und potenziell unsere gesamte Zivilisation in Gefahr gebracht würde. Mir macht es Angst darüber nachzudenken, dass zu den notwendigen Führungsqualitäten auch die Bereitschaft gehört, Genozid zu verüben, und darauf läuft es bei genauer Betrachtung hinaus.

Indem wir uns mit dieser Politik abfinden, hat im übertragenen Sinn nicht nur der Präsident, sondern jeder Einzelne von uns den Finger auf dem Knopf; jeder von uns nimmt Teil an einem Glücksspiel, bei dem es um das Überleben der menschlichen Zivilisation geht. Wir machen die Sicherheit der Welt vom Gleichgewicht des Terrors abhängig. Auf lange Sicht führt dies zwangsläufig zur Erosion der ethischen Grundlagen von Zivilisation. (. . .)

Ich glaube nicht, dass die Menschen der Welt eine Politik hinnehmen würden, die ihrem Wesen nach unmoralisch ist und zwingend in der Katastrophe endet, eine Politik, die auf der fortgesetzten Existenz von Atomwaffen basiert. Aber die Resolutionen zur nuklearen Abrüstung, die bei der UN-Vollversammlung jedes Jahr eine große Mehrheit erhalten, werden von den Atomwaffenstaaten vollständig ignoriert, und in der Praxis heißt das: vor allem von der Regierung der Vereinigten Staaten.

Dabei unterscheide ich zwischen der Regierung und den Menschen der USA, weil ich überzeugt bin, dass letztere wie die große Mehrheit der Menschen überall auf der Welt den Einsatz von Atomwaffen verabscheuen.
In den USA gibt es Gruppen, beispielsweise den von US-Präsident Eisenhower benannten militärisch-industriellen Komplex, die ein Eigeninteresse daran haben, dass die USA in ihrer Politik weiterhin auf den Besitz von Atomwaffen setzen. Der Einfluss dieser Gruppen auf die Regierung mag schwanken, aber die Regierung Bush mit ihrem ausgeprägten Unilateralismus scheint für diesen Einfluss besonders empfänglich zu sein.

Die Niederlage des Kommunismus im Kalten Krieg und der Triumph der freien Marktwirtschaft gaben dem kapitalistischen System großen Auftrieb, trotz seiner hässlichen Fratze aus Gier und Selbstsucht. Gewinnstreben wurde zur Hauptantriebskraft dieser Gruppen, und der Schutz von Eigentum ist das unausweichliche Ergebnis. Das wirtschaftlich, technologisch und militärisch mächtigste Land der Erde hält es für erforderlich, seine Sicherheit noch weiter zu erhöhen, indem es mehr Schutz vor einem Angriff von außen sucht und es verhindert - wenn nötig mit militärischen Mitteln -, dass andere, als Feinde betrachtete Länder mehr militärische Macht erlangen. Ein Abwehrsystem gegen ballistische Raketen - womöglich mit nuklear bestückten Abfangraketen - wird als nötig erachtet, um das Gebiet der USA vor etwaigen Raketen zu schützen. Aber selbst mit einem 100 Prozent wirksamen Abwehrsystem, was aus technischen Gründen höchst unwahrscheinlich ist, wird immer noch der Besitz mehrerer tausend nuklearer Sprengköpfe für nötig erachtet, um andere Länder vom Erwerb dieser Art von Schutz für sich selbst abzuschrecken.

Vor allem in der Zusammenarbeit mit anderen Ländern wirken sich die unilateralistischen Tendenzen so negativ aus. An erster Stelle müssen immer die Interessen der USA stehen.

Internationale Verträge, auch die schon abgeschlossenen, werden ignoriert oder widerrufen, wenn sie diesen Interessen nicht dienen. Im ersten Jahr der Regierung von George W. Bush haben wir eine ganze Serie von Schritten auf diesem unilateralistischen Pfad hinnehmen müssen: die Aufkündigung des Raketenabwehrvertrages; die Weigerung, das Umfassende Teststoppabkommen zu ratifizieren; den Rückzug aus dem Kyoto-Abkommen zum Schutz der Umwelt; den Widerstand gegen den Internationalen Strafgerichtshof; und so weiter und so fort.

Diese negativen Maßnahmen, die zur Schwächung internationaler Verträge und Abkommen führen, werden von weiteren Schritten begleitet, mit denen die USA ihre militärische Stärke ausbauen wollen. Dazu gehört eine erhebliche Steigerung der Militärausgaben, gerade auch im nuklearen Bereich. Dazu gehört die Entscheidung, die Sprengköpfe, die gemäß den Start-Abkommen jetzt eigentlich demontiert werden sollten, nicht mechanisch zu zerstören. Der Start-Prozess wurde durch den Vertrag ersetzt, der am 24. 5. 2002 in Moskau unterzeichnet wurde, durch einen Vertrag, der als historischer Schritt zum Weltfrieden gefeiert wurde, aber nichts dergleichen ist.
Jede Abrüstung von Massenvernichtungswaffen ist natürlich sehr willkommen, aber in diesem Fall ist die Abrüstung reine Illusion. Die Sprengköpfe, die unter dem Bush-Putin-Abkommen aus den Arsenalen entfernt werden - über einen unnötig langen Zeitraum von zehn Jahren -, werden als Reserve in den Lagern gehalten und könnten rasch wieder aktiviert werden. Außerdem kann jede Seite den Vertrag mit 90 Tagen Frist kündigen.

Zu den Schritten gehört auch die Entwicklung neuer und deutlich verbesserter Sprengköpfe, ein Programm, das unter Clinton bereits heimlich gestartet wurde und unter Bush nun offen fortgesetzt wird.

In den frühen 1990ern - nach dem Ende des Kalten Krieges - gab es eine Phase des guten Willens, als beide Seiten Maßnahmen zur Verringerung ihrer riesigen Nukleararsenale zustimmten. In diesem Kontext beschloss die Regierung der Vereinigten Staaten, keine neuen Sprengköpfe mehr herzustellen und keine weiteren Nukleartests durchzuführen. (. . .)

Die Aufrechterhaltung eines Nukleararsenals setzt eine Infrastruktur voraus, die die Sicherheit und Zuverlässigkeit der Sprengköpfe in den Arsenalen garantiert, ebenso die Möglichkeit, innerhalb kürzester Zeit wieder Tests aufnehmen zu können. Dafür wird eine gewisse Zahl Wissenschaftler und Ingenieure benötigt. Das war der Ausgangspunkt von Stockpile Stewardship and Management (Programm zur Bestandssicherung und -verwaltung; d. Red.), das 1994 aufgesetzt wurde und dessen Budget die Regierung Bush kürzlich auf 5,3 Milliarden US-Dollar erhöhte.

Zum Stewardship-Programm gehört es, "die Atomwaffenfähigkeit aufrechtzuerhalten; die technischen Voraussetzungen für die Überwachung der Arsenale aufzubauen; die Fähigkeit zur Entwicklung, Herstellung und Freigabe neuer Sprengköpfe unter Beweis zu stellen". Mit diesem Auftrag haben die Wissenschaftler fast unbegrenzte Freiheiten, solange dazu nicht die offene Durchführung von Atomwaffentests und die tatsächliche Produktion neuer Atomsprengköpfe gehört. (. . .)

Die Entwicklung neuer Sprengköpfe ist nicht erlaubt. Dieses Hindernis lässt sich aber umgehen, indem eine alte Waffe mehreren Modifizierungen unterzogen wird, die für sich genommen jeweils durch das Programm abgedeckt sind, in der Summe aber eine Waffe ergeben, die besser einsetzbar ist, auch wenn sie schlussendlich einmal getestet werden muss, um die Militärs von der Verbesserung des Produkts zu überzeugen.

In Anbetracht der Geringschätzung, die Präsident Bush internationalen Abkommen entgegenbringt, wird er zweifellos neue Nukleartests genehmigen, wenn er zum Schluss kommt, dass dies im Interesse der Vereinigten Staaten liegt. Und das wurde ja auch bei der Erklärung zur Eröffnung der Vorbereitungskonferenz zur Überprüfung des NVV vor einigen Wochen bestätigt.

Renommierte Zeitschriften berichteten über hartnäckige Gerüchte, dass in (den Atomwaffenlaboratorien von; d. Red.) Los Alamos neue Sprengköpfe entwickelt werden. Die militärische Forschung in den Nationallabors von Los Alamos, Livermore und Sandia unterliegt der Geheimhaltung, sodass die Zuverlässigkeit dieser Gerüchte nicht überprüft werden kann, aber glaubwürdig sind sie allemal. (. . .)

Die hartnäckigen Gerüchte berichten über die Entwicklung eines neuen Sprengkopfs mit sehr kleiner Sprengkraft, fast im Bereich der Sprengkraft von konventionellen Sprengbomben, aber so geformt, dass er mit hoher Durchschlagskraft durch Beton dringt, eine so genannte "bunkerbrechende Miniatombombe". Außerdem wird ihr als hervorstechende Eigenschaft zugeschrieben, eine "saubere" Bombe zu sein, weil keine radioaktiven Spaltprodukte freigesetzt würden. Diese Behauptung ist allerdings mit Vorsicht zu behandeln: Es ist erheblicher Zweifel angebracht, ob sich die Freisetzung von Radioaktivität verhindern ließe.
Am meisten Sorgen an dieser Bombe machen aber die politischen Auswirkungen, selbst wenn sie tatsächlich die ihr zugeschriebenen Eigenschaften hätte. Wenn sie "sauber" ist und ihre Sprengkraft so weit abgesenkt werden kann, dass sie in den Bereich konventioneller Sprengkörper kommt, dann wird der Unterschied zwischen den beiden Waffentypen verwischt. (. . .)

In der Kampagne, zu der ich hier dränge, um das Thema Atomwaffen wieder auf die öffentliche Tagesordnung zu bringen, sollten wir genau die Argumente und Taktiken verwenden, die Präsident Bush in den Aktionen gegen den Terrorismus nutzt. Um nach dem 11. September die Taliban und Al Qaeda niederzuwerfen, musste er für den Feldzug in Afghanistan eine Koalition aus vielen Ländern schmieden, obwohl die militärische Bürde fast ausschließlich von den USA getragen wurde. Und er musste eine moralische Argumentationslinie für den Einsatz aufbauen, indem er die Terroristen als das Böse präsentierte, im Gegensatz zu der Koalition, in der die Menschen rechtschaffen sind. Indem er bei anderen Ländern um Hilfe bat, gab Präsident Bush das Versagen seiner eigenen unilateralen Politik zu. Ein Beispiel dafür ist das Treffen heute in Moskau; trotz seines Widerwillens gegen internationale Abkommen sah sich Präsident Bush gezwungen, einen neuen internationalen Vertrag zu unterzeichnen. Auch wenn dieser Vertrag pure Heuchelei ist, sollten wir die Vertragsunterzeichnung für unsere Bemühungen nutzen, die Abschaffung von Atomwaffen wieder auf die Tagesordnung zu bringen. (. . .)

Respekt für und strikte Einhaltung der Bestimmungen des Völkerrechts sind das Fundament für eine zivilisierte Gesellschaft. Ohne das würden Anarchie und Terrorismus herrschen, also genau die Gefahren, die die neu gebildete Koalition verhindern soll.

Folglich hat die Weltgemeinschaft das Recht, die USA dazu aufzurufen, sofort folgende Schritte zu tun:
-das Umfassende Teststoppabkommen ratifizieren;
-die Kündigung des Raketenabwehrvertrags rückgängig machen;
-jegliche Absicht zur Bewaffnung des Weltraums aufgeben;
-ihre Atomwaffen aus der ständigen Alarmbereitschaft nehmen;
-auf den Ersteinsatz von Atomwaffen verzichten;
und all dies, um ihre Verpflichtungen zur nuklearen Abrüstung gemäß den Bestimmungen des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages zu erfüllen.
Ein noch stärkeres Argument für die Errichtung einer atomwaffenfreien Welt sollte sich auf die moralischen Bedenken gegen Atomwaffen stützen.
Präsident Bush besteht darauf, dass der Feldzug gegen Terroristen nach dem 11. September moralisch gerechtfertigt ist. Ursprünglich nannte er ihn sogar einen "moralischen Kreuzzug", auch wenn er diesen Begriff auf Grund der damit verbundenen unseligen historischen Assoziationen rasch wieder fallen ließ. Dennoch wird der Feldzug immer noch als Kampf zwischen Gut und Böse dargestellt, bei dem sich die USA auf Seiten der Engel befinden. Ein solcher Anspruch kann aber nur aufrechterhalten werden, wenn Politik und Handeln der USA erkennbar von ethischen Überlegungen geleitet werden.

Die scheinheilige Politik, das eine zu predigen und genau das Gegenteil zu tun, fällt kaum in diese Kategorie. Der Einsatz von Atomwaffen, und auch schon die bloße Drohung mit dem Einsatz, werden allgemein als höchst unmoralisch empfunden. Der moralische Anspruch steht in direktem Widerspruch zur Bereitschaft des Präsidenten, den nuklearen Knopf zu drücken. Wenn die Vereinigten Staaten weiterhin darauf bestehen, sich selbst als Führer eines auf moralischen Prinzipien basierenden Feldzuges zu bezeichnen, dann müssen sie auf jeglichen Einsatz von Massenvernichtungswaffen verzichten, und sie müssen die vollständige
Abschaffung dieser Waffen politisch umsetzen, wozu sie völkerrechtlich ohnehin verpflichtet sind.

Eine Kampagne für nukleare Abrüstung auf der Grundlage moralischer Argumente wird von vielen als Träumerei eingestuft, wohl aber nicht von INES, einer Organisation, die ethischen Werten verpflichtet ist. INES wird sich nicht einer Politik unterwerfen, die zum Tod von vielen Tausenden oder Millionen Menschen und potenziell sogar zur Vernichtung der gesamten Menschheit führen kann.

Die Lage ist ernst. So, wie sich die Dinge momentan entwickeln, muss das zur Katastrophe führen. Wenn es einen Ausweg gibt, sogar einen scheinbar unrealistischen, dann ist es unsere Pflicht, ihn zu beschreiten. Auf Gerechtigkeit und Moralität abzielende Argumente brechen vielleicht bei verhärteten Politikern nicht das Eis, aber sie können die Bürgerinnen und Bürger erreichen. Wenn wir es schaffen, der Allgemeinheit die ernsten Gefahren aufzuzeigen, die mit der Fortschreibung der momentanen Politik verbunden sind, und wenn wir gleichzeitig die langfristigen Vorteile einer auf Gerechtigkeit und Moralität basierenden Politik vermitteln, schaffen wir es vielleicht, das Thema Atomwaffen wieder in die öffentliche Diskussion zu bringen. (. . .)