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Verteidigungsrede Wolfgang Sternstein am AG Cochem vom 23.11.2004

Ich möchte gleich zu Beginn klarstellen, es ist nicht mein Ziel, freigesprochen zu werden. Mein Ziel ist vielmehr die Abschaffung und völkerrechtliche Ächtung der Atomwaffen. Die Frage, ob eine Verurteilung oder ein Freispruch uns diesem Ziel einen Schritt (und sei er auch noch so klein) näherbringt, muss m.E. offenbleiben. Ich sehe deshalb Ihrem Urteil mit großer Gelassenheit entgegen.

Im Mittelpunkt dieser Verhandlung steht meiner Meinung nach nicht die "Öffentliche Aufforderung zu Straftaten³, die der Herr Staatsanwalt in den Mittelpunkt rücken möchte. Darum geht es nur vordergründig. Für mich steht im Zentrum dieser Verhandlung die Verfassungs- und Völkerrechtswidrigkeit der "nuklearen Teilhabe der Bundesrepublik Deutschland³, genauer, die Verfassungs- und Völkerrechtswidrigkeit der Atomwaffen und der Politik der nuklearen Abschreckung.

Noch eine letzte Vorbemerkung. Ich kann das, was ich zu diesem Thema zu sagen habe, in diesem Verfahren nur in denkbar knapper Form vortragen, schon aus Rücksicht auf das, was Sie, Herr Richter, und Sie, Herr Staatsanwalt, sowie unser Anwalt und die Mitangeklagten zu sagen haben.

Ich möchte deshalb gleich zur Sache kommen, zu der Frage nämlich, ob die Politik der nuklearen Abschreckung den Atomkrieg auf die Dauer verhindern kann. Die Antwort ist klar: Sie kann es nicht. Ich will damit nicht etwa behaupten, Abschreckung wirke niemals. Keineswegs. Abschreckung wirkt oft, vielleicht sogar meistens. Aber und darin besteht das Problem sie wirkt nicht immer. Das wissen Sie, Herr Richter, und Sie, Herr Staatsanwalt, nur allzugut. Schließlich verdanken Sie ihre Berufstätigkeit und Ihr Einkommen zumindest teilweise dem Versagen der Abschreckung. Die Strafandrohung hat ja vor allem den Zweck, potenzielle Straftäter von der Begehung von Straftaten abzuschrecken. Dass das zwar oft, aber nicht immer gelingt, ist Ihre tägliche Erfahrung.

Die Folgen eines Versagens der Abschreckung im Bereich des Strafrechts sind schlimm genug, wenn wir an Mord, Totschlag, schwere Körperverletzung und dergleichen denken. In der Politik aber sind die Folgen des Versagens der atomaren Abschreckung katastrophal. Sie können die Verwüstung ganzer Länder und Kontinente, ja die Verwüstung der ganzen Erde zur Folge haben. Das haben unzählige Menschen erkannt und deshalb nachdrücklich die Abkehr von der Politik der nuklearen Abschreckung gefordert. Ich nenne hier nur die Namen einiger bedeutender Persönlichkeiten: Albert Einstein, Albert Schweitzer, Günther Anders, Friedrich von Weizsäcker, Bertrand Russell, Michael Gorbatschow, Papst Johannes Paul II., Martin Niemöller, Helmut Gollwitzer und last not least Mahatma Gandhi. Stellvertretend für sie sei hier der Oberbefehlshaber der amerikanischen Atomstreitkräfte unter Präsident George Bush sen., General George Lee Butler zitiert, der in einer Rede vor kanadischen Friedensorganisationen sagte:

"Wir sind im Kalten Krieg dem atomaren Holocaust nur durch eine Mischung von Sachverstand, Glück und göttlicher Fügung entgangen, und ich befürchte, das letztere hatte den größten Anteil daran.³ (FR 1.9.1999, S. 9)

Das heißt, nach Ansicht General Butlers verdanken wir die Tatsache, dass wir hier in diesem Gerichtssaal sitzen, in erster Linie göttlicher Fügung. Können wir uns darauf verlassen, dass die göttliche Fügung auch künftig die Welt vor dem nuklearen Holocaust bewahren wird? Handelt es sich nicht vielmehr um eine Gnadenfrist, die uns für die Abschaffung und völkerrechtliche Ächtung der Atomwaffen gewährt wurde? Nüchterner ausgedrückt: Gilt nicht auch hier das Sprichwort: Der Krug geht solange zum Brunnen, bis er bricht? Genau das hatte General Butler im Sinn, als er in einem Spiegel-Interview aus dem Jahre 1998 äußerte:

"Wir handelten wie ein Betrunkener beim russischen Roulett, der zehnmal die

Pistole abdrückt und dann erklärt: Guck mal, es ist überhaupt nicht gefährlich. In Wahrheit war das Nuklear-Roulett überaus gefährlich und arrogant. Es ist ein Wunder, dass wir es geschafft haben, uns irgendwie durchzuwursteln. Nukleare Abschreckung ist ein Hasardspiel, das irgendwann verloren geht.³ (32/1998, S.138f)

Wenn das bereits für die Defensivstrategie der nuklearen Abschreckung gilt, um wie viel mehr für die Offensivstrategie der USA und der Nato im Kampf gegen den Terrorismus und gegen Staaten, die verdächtigt werden, nach Atomwaffen zu streben, eine Strategie, die ganz selbstverständlich den Ersteinsatz von Atomwaffen vorsieht.

In gebotener Kürze möchte ich nun die Rechtsnormen benennen, gegen die die Politik der nuklearen Abschreckung im Allgemeinen und die "nuklearen Teilhabe der Bundesrepublik³ im Besonderen verstößt. (Ich vermute, Herr Comes wird darauf noch näher eingehen).

Die "nukleare Teilhabe der Bundesrepublik³ verstößt gegen die Menschenrechte, insonderheit gegen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das vom Bundesverfassungsgericht in einem seiner Urteile mit Recht als das "Grundrecht der Grundrechte³ bezeichnet wurde, weil sämtliche Grundrechte von der Garantie dieses Grundrechts abhängen. Es bedarf keiner weiteren Begründung, dass die Vernichtung eines Landes, eines Kontinents oder der Menschheit als Folge eines Atomkriegs dieses Grundrecht und damit alle anderen nicht nur in seinem Wesensgehalt (Art. 19 IV GG) antastet, sondern gänzlich vernichtet.

Die "nukleare Teilhabe der Bundesrepublik³ verstößt gegen die allgemeinen Regeln des humanitären Völkerrechts, die nach Art. 25 GG für jeden Bewohner des Bundesgebietes verbindlich sind und die dem einfachen Recht (d.h. auch dem Strafrecht) vorgehen. Artikel 100, II GG regelt verbindlich, was zu tun ist, falls in einem Rechtsstreite zweifelhaft ist, "ob eine Regel des Völkrrechts Bestandteil des Bundesrechtes ist und ob sie unmittelbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt³. In einem solchen Fall hat das Gericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen. (...)

Die "nukleare Teilhabe der Bundesrepublik³ verstößt gegen Art. II des Nichtverbreitungsvertrags, welcher lautet: ³Jeder Nichtkernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemanden unmittelbar oder mittelbar anzunehmen ...³ Es besteht kein Zweifel, dass die auf dem Fliegerhorst Büchel praktizierte nukleare Teilhabe eine "mittelbare Verfügungsgewalt über Kernsprengkörper³ darstellt und somit völkerrechtswidrig ist, da die Bundesrepublik zu den im Vertrag genannten "Nichtkernwaffenstaaten³ gehört.

Die "nukleare Teilhabe der Bundesrepublik³ verstößt aber auch gegen Art. VI des Nichtverbreitungsvertrags, der alle Vertragsparteien verpflichtet, "in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung ... unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle³. Der Internationale Gerichtshof hat in seinem Gutachten vom Juli 1996 diese Selbstverpflichtung der Vertragsparteien des Nichtverbreitungsvertrags aus dem Jahre 1968 mit einem einstimmigen Votum noch einmal dringlich angemahnt. Die Bundesrepublik ist ihrer Verpflichtung aus diesem Vertrag seit dreißig Jahren nicht nachgekommen. Sie ist somit, wie alle Atomwaffenstaaten, permanent vertragsbrüchig. Man fragt sich, was ist ein Vertrag wert, der nur die Schwachen bindet, nicht aber die Starken. Die Antwort lautet: Ein solcher Vertrag ist nichts wert, er ist ungültig. Die atomaren Habenichtse haben jedes Recht, ihn für ungültig zu erklären, da ihre Unterschrift durch den Artikel VI des Vertrages erschlichen wurde. Selbstverständlich plädiere ich nicht für die Annullierung des Vertrags, sondern für seine Erfüllung.

Die "Nuklearen Teilhabe der Bundesrepublik³ verstößt des Weiteren gegen Art. 3,I des 2+4-Vertrags, welcher lautet: "Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihren Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungssgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen. Sie erklären, dass auch das vereinte Deutschland sich an diese Verpflichtungen halten wird. Insbesondere gelten die Rechte und Verpflichtungen aus dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen vom 1. Juli 1968 für das vereinte Deutschland fort.³

Die auf dem Fliegerhorst Büchel praktizierte "nukleare Teilhabe der Bundesrepublik³, die ja den Einsatz von Atombomben im Kriegsfall durch die Bundeswehr vorsieht, nachdem sie vom amerikanischen Präsidenten freigegeben wurden, verstößt gegen Buchstabe D des Gutachtens, welcher lautet: ³Ein Androhen des Einsatzes oder ein Einsetzen von Atomwaffen müsste mit den Anforderungen vereinbar sein, die sich aus dem für bewaffnete Konflikte geltenden Völkerrecht, insbesondere aus den Prinzipien und Regeln des sog. humanitären ... Völkerrechts und aus den Verpflichtungen aus abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträgen und anderen Übereinkünften ergeben, die speziell Atomwaffen betreffen.³

Auch dieses Richtervotum erfolgte einstimmig. Es ist offensichtlich, dass der Einsatz auch nur einer Atomwaffe aufgrund der nicht begrenzbaren Verseuchung von Wasser, Luft und Erde durch Radionuklide und der Gefahr eines Dammbruchs für den Einsatz weiterer Atomwaffen diese Bedingungen nicht erfüllen kann.

Das Ergebnis unserer Prüfung ist folglich eindeutig und klar: Die Drohung mit und der Einsatz von Atomwaffen im Allgemeinen und die "nukleare Teilhabe der Bundesrepublik³ im Besonderen sind verfassungs- und völkerrechtswidrig.

Es gibt m.E. nicht den geringsten Zweifel, dass ein Atomkrieg, gleichgültig, ob er ein Zehntel, die Hälfte oder die ganze Menschheit vernichtet, das denkbar größte Verbrechen darstellt. Wir sind uns vermutlich alle darin einig, dass Mord ein schweres Verbrechen ist, dass Massenmord ein schwereres und Völkermord ein noch schwereres Verbrechen darstellen. Das denkbar schwerste Verbrechen aber ist der Mord an der Menschheit und allem höheren Leben auf der Erde. Dieses Verbrechen ist auf lange Sicht unvermeidlich, sofern es uns nicht gelingt, die Atomwaffen abzuschaffen und völkerrechtlich zu ächten.

Ich halte es deshalb für meine Pflicht, die auf dem Fliegerhorst Büchel beschäftigten Personen davor zu warnen, sich an diesem denkbar größten Verbrechen direkt oder indirekt zu beteiligen. Ich halte es darüberhinaus für meine Pflicht, Sie, Herr Richter, und Sie, Herr Staatsanwalt, davor zu warnen, sich indirekt an diesem denkbar größten Verbrechen zu beteiligen.

Sie werden mir vielleicht entgegenhalten: Sie kennen doch die höchstrichterliche Rechtsprechung zu diesem Gegenstand. Das Bundesverfassungsgericht hat eine Richtervorlage und insgesamt vier Verfassungsbeschwerden zu dieser Frage abgelehnt. Daran muss ich mich halten. Ich habe als Richter nicht den geringsten Entscheidungsspielraum in der Frage der Rechtswidrigkeit ihrer Tat, ich habe ihn allenfalls in der Frage des Strafmaßes. Darauf möchte ich erwidern: Ob unsere Tat überhaupt einen Straftatbestand erfüllt, von den Rechtfertigungsgründen einmal ganz abgesehen, dazu möchte ich mich nicht äußern, das ist Sache unseres Anwalts.

Ich gebe zu, die Antwort des Bundesverfassungsgerichts auf unsere Beschwerden und die Vorlage von Amtsrichter Wolf hat mich fassungslos gemacht. Ich verstehe sie nicht. Wie ist es möglich, dass die von uns vorgetragenen Argumente dem Gericht gerade mal sieben dürre Worte wert waren: "Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.³

Ich habe lange über diese unfassliche Rechtsprechung, vielleicht sollte man sie besser Unrechtsprechung nennen, nachgedacht. Eine Deutungsmöglichkeit ist: Das Gericht drückt sich vor der argumentativen Auseinandersetzung, weil es dem überwältigenden Gewicht unserer Argumente nichts entgegenzusetzen weiß.

Eine andere Interpretation lautet: Es ist offenbar unfähig oder unwillig, seine unselige Recht-sprechung zu Massenvernichtungswaffen aus dem achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Lichte des Gutachtens des Internationalen Gerichtshofes von 1996 zu revidieren.

Schließlich gibt es noch eine dritte Interpretationsmöglichkeit: Die europäische Einigungsbewegung läuft auf eine Militärmacht Europa zu, die aufgrund des französischen und britischen Atomwaffenarsenals auch eine Atommacht sein wird. In einem solchen Europa ist für ein dem Staatsziel der Friedensstaatlichkeit verpflichtetes Grundgesetz und ein dem Grundgesetz verpflichtetes Verfassungsgericht kein Platz. Eine Bundesrepublik, die sich aus verfassungs- und völkerrechtlichen Gründen dieser Entwicklung verweigern müsste, würde da nur stören. Sollte diese Interpretation zutreffen, so würde es bedeuten: das Bundesverfassungsgericht geht vor der politischen Macht in die Knie und opfert das Verfassungs- und Völkerrecht auf dem Altar bedenkenloser Machtpolitik.

Es fragt sich jedoch, ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts tatsächlich die höchstrichterliche Rechtsprechung? Die Antwort lautet: Nein! Die höchstrichterliche Rechtsprechung ist ohne jeden Zweifel die des Internationalen Gerichtshofes, denn dieses Gericht steht über dem Bundesverfassungsgericht. Das Bundesverfassungsgericht ist folglich gehalten, die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes in deutsches Recht zu überführen. In diesem Sinne schrieb der große alte Mann der deutschen Verfassungsrechtsprechung, Helmut Simon:

"Als früherer Verfassungsrichter wünsche und hoffe ich nicht zuletzt, dass die Beurteilung des Internationalen Gerichtshofes auch Eingang in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts findet. All zu lange hat sich der militärische Bereich als merkwürdig resistent gegenüber verfassungsrechtlichen Anforderungen erwiesen.³

Die Prinzipien Nr. 2 und Nr. 4 der "Nürnberger Prinzipien³, die den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zugrundelagen und heute geltendes Völkerrecht sind, nach denen u.a. die Mauerschützen und ihre Vorgesetzten verurteilt wurden, lauten:

2. Der Umstand, dass das nationale Recht keine Strafe für eine Tat vorsieht, die nach Völkerrecht als Verbrechen bestimmt ist, entlastet den Täter nicht von seiner Verantwortlichkeit nach Völkerrecht.

4. Der Umstand, dass eine Person aufgrund von Befehlen ihrer Regierung oder ihres Vorgesetzten gehandelt hat, entbindet sie nicht von der Verantwortlichkeit nach Völkerrecht, es sei denn, sie hatte keine Möglichkeit, sich frei zu entscheiden.

Für Sie, Herr Richter, ist folglich nicht das verbindlich, was die Bundesregierung und das Bundesverfassungsgericht sagen, für Sie ist verbindlich, was die Verfassung und das Völkerrecht sagen. Und was die sagen, ist eindeutig und klar.

Das Bundesverfassungsgericht sieht offenbar keinen Anlass, die gutachterliche Stellungnahme des höchsten Gerichts in deutsches Recht zu überführen. Diese Art des Umgangs mit dem Recht, dem Völkerrecht zumal, hat Tradition in Deutschland. Schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs bezeichnetete der deutsche Reichskanzler Bethmann-Hollweg die belgische Neutralitätserklärung als einen "Fetzen Papier³, der den Angriff deutscher Truppen auf Frankreich nicht aufhalten könne, obwohl dieser Bruch des Völkerrechts den Kriegseintritt Englands zur Folge hatte. Hitler brach das Völkerrecht gleich dutzendfach. Heute sind es die US-Amerikaner und die Nato, die das Gewaltverbot der UN-Charta mit Füßen treten.

Aus all dem lässt sich die bittere Wahrheit ableiten: Im Konflikt zwischen Macht und Recht siegt allemal die Macht. Die Mächtigen betrachten die UN-Charta, den Nichtverbreitungsvertrag und das Gutachten des Internationalen Gerichtshofes als "Fetzen Papier³. Aber das muss nicht so sein. Es gibt eine Instanz, die dem Verfassungs- und Völkerrecht Geltung verschaffen kann, wenn Bundesregierung und Bundesverfassungsgericht offensichtlich dagegen verstoßen, und das ist die öffentliche Meinung, das sind die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, das sind wir, die wir hier in diesem Gerichtssaal beisammen sind. In diesem Sinne schrieb Albert Schweitzer bereits vor mehr als vierzig Jahren, also noch vor dem Nichtverbreitungsvertrag, in dem sich die Atommächte zur nuklearen Abrüstung verpflichteten, und lange vor dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofes, das die grundsätzliche Völkerrrechtswidrigkeit der Atomwaffen feststellte:

"Kein Land, in welcher Gegend der Erde es auch gelegen sein mag, kann sich der Hoffnung hingeben, dass das Vorhandensein von Atomwaffen es nichts angeht und es nichts davon zu befürchten hat. Darum muss die Erkenntnis dieser Gefahr bei allen Völkern der Erde verbreitet sein. Und alle müssen wissen, dass die Abschaffung dieser Waffen aufgrund der Tatsache, dass sie gegen das Völkerrecht sind, gefordert werden muss, wenn sie die beste Aussicht auf Erfolg haben soll. In dieser Weise ist sie am einfachsten und stärksten juristisch begründet. Wenn die öffentliche Meinung bei allen Völkern sich dieses Arguments bewusst wird und es geltend macht, dann kommt es unaufhaltsam dazu, dass diese grausigen Waffen abgeschafft werden.³

Das schrieb Schweitzer 1961. Man fragt sich, was wir in den 43 Jahren, die seitdem vergangen sind, getan haben, um das von ihm so klar formulierte Ziel zu erreichen. Ich scheue mich deshalb nicht, öffentlich zum zivilen Ungehorsam gegen die Regierungen aufzurufen, die Atomwaffen herstellen und besitzen oder sie auf ihrem Territorium dulden.

Ich frage mich, Herr Richter und Herr Staatsanwalt, wie Sie an meiner Stelle handeln würden, sofern Sie, wie ich, überzeugt wären, dass der Atomkrieg das denkbar größte Verbrechen unausweichlich ist, wenn wir die Atomwaffen nicht abschaffen und ihre Herstellung und Aufstellung sowie ihren Einsatz völkerrechtlich verbieten. Was wir getan haben, ist ja viel zu wenig. Es ist ja nur ein symbolischer Widerstandsakt, mehr nicht. Wir müssten unendlich viel mehr tun, um unser Ziel zu erreichen, wobei ich unter "mehr tun³ selbstverständlich nur gewaltfreie Aktionen verstehe, d.h. Aktionen, bei denen Menschen nicht geschädigt, verletzt oder getötet werden.

Es mag in Ihren Ohren absurd klingen, trotzdem meine ich, wir sind nicht nur berechtigt, sondern unter Stafandrohung sogar verpflichtet, das von der Bundesregierung in Zusammenarbeit mit den Nato-Partnern geplante Verbrechen des Völker- und Menschheitsmordes den "Behörden und den Bedrohten³ anzuzeigen. In § 138 StGB heißt es u.a. unmissverständlich:

"Wer von dem Vorhaben oder der Ausführung (6.) eines Mordes, Totschlags oder Völkermordes zu einer Zeit, zu der die Ausführung oder der Erfolg noch abgewendet werden kann, glaubhaft erfährt und es unterlässt, der Behörde oder dem Bedrohten rechtzeitig Anzeige zu machen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.³

Mag sein, Herr Richter, dass keines der hier vorgetragenen Argumente Sie überzeugt. Gut, dann ist es selbstverständlich Ihre Pflicht, mich zu verurteilen, und ich werde, da dürfen Sie sicher sein, Ihr Urteil ohne Murren hinnehmen.

Vielleicht haben die von mir hier vorgetragenen Argumente Sie nachdenklich gemacht, aber sie sagen sich: Was nützt es den Angeklagten, wenn ich sie freispreche oder eine Richtervorlage mache, vor den Obergerichten und spätestens vor dem Bundesverfassungsgericht werden sie ja doch scheitern. Damit ist in der Tat zu rechnen. Aber damit ist der Fall nicht erledigt.Albert Schweitzer hat vor über vierzig Jahren im fernen Urwaldwinkel Lambarene die Sache, um die es hier geht, auf den Punkt gebracht, als er schrieb:

"In der Menschheitsgeschichte von heute handelt es sich darum, ob die Gesinnung der Humanität oder die der Inhumanität zur Herrschaft gelangt. Wenn es die der Inhumanität ist, die nicht darauf verzichten will, unter Unständen von den grausamen Atomwaffen, die heute zur Verfügung stehen, Gebrauch zu machen, ist die Menschheit verloren. Nur wenn die Humanitätsgesinnung, für die solche Waffen nicht in Betracht kommen, die Gesinnung der Inhumanität verdrängt, dürfen wir hoffend in die Zukunft blicken. Die Gesinnung der Humanität hat heute weltgeschichtliche Bedeutung.³

Es geht in dieser Verhandlung nicht nur um uns, es geht auch um Sie, Herr Richter, und Sie, Herr Staatsanwalt. Verzeihen Sie, wenn ich Sie so persönlich anspreche. Es geht darum, ob Sie sich in diesem Konflikt auf die Seite des Rechts oder der Macht, die Seite der Humanität oder der Inhumanität stellen.

Da ich eingangs gesagt habe, ich wisse nicht, ob ein Freispruch oder eineVerurteilung der Sache, für die ich eintrete, mehr dient, verzichte ich ganz bewusst auf einen Antrag.