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Eine neue militärische Aufteilung der Welt

Die künftige Kommandostruktur der USA für eine globale Ordnung und eine zurechtgestutzte Nato
Von Otfried Nassauer

Die USA zimmern sich die Welt neu zurecht: In wenigen Wochen gibt es kein Fleckchen Erde mehr, für das nicht ein regionales Militärkommando der USA Zuständigkeit beansprucht. Die Pläne für ein neues Zeitalter der Abschreckung mitsamt strategischer Vergeltungsschläge bedeuten für die Nato einen erheblichen Verlust an Einfluss. Europa reagiere auf die konkreten Planspiele bislang überraschend zurückhaltend, meint Otfried Nassauer. Wir dokumentieren die Analyse des Journalisten und Leiters des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS).

Am 1. Oktober 2002 ist die Welt aufgeteilt - aufgeteilt unter den militärischen Oberkommandos der Vereinigten Staaten. Zum ersten Mal in der Geschichte gibt es kein Fleckchen Erde mehr, für das nicht eines der regionalen Kommandos der USA zuständig ist - auch nicht in der Antarktis. Schon darin spiegelt sich das veränderte Selbstverständnis Washingtons als einzige nach dem Kalten Krieg verbliebene Supermacht. Es spiegelt sich aber auch eine veränderte Bedrohungs- und Risikowahrnehmung. Gefahren für die Supermacht können überall lauern.

Am 1. Oktober 2002 entsteht ein neues Machtzentrum in der amerikanischen Militärbürokratie - ein Oberkommando, dem Frühwarnsysteme und Satelliten, Raketenabwehrsysteme und strategische Angriffsraketen, strategische Mittel für konventionelle und nukleare Angriffsoperationen unterstellt werden. Washington plant eine integrierte Kommandozentrale für - auch präventive - strategische Angriffe, strategische Vergeltungsangriffe und strategische Verteidigung. Dieses Oberkommando soll konventionelle und nukleare strategische Operationen planen und durchführen und wird damit zum Symbol für ein neues, zweites, sehr anderes Zeitalter und Verständnis der Abschreckung.

Das ist, kurz gefasst, das Ergebnis der jüngsten Überprüfung des "Unified Command Plans", ein Dokument, das alle 2 bis 3 Jahre überarbeitet und vom Präsidenten der USA gebilligt wird. Es beschreibt die Aufgaben, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten der wichtigsten militärischen Kommandobehörden der USA, der regionalen Oberkommandos mit ihren geographischen Zuständigkeiten und der funktionalen Oberkommandos für spezifische Fachaufgaben. In mehreren Schritten hat die Regierung Bush seit April ihre von den Ereignissen des 11. Septembers deutlich geprägten Entscheidungen öffentlich gemacht. Am 1. Oktober sollen sie in Kraft treten. Sie beinhalten gravierende Veränderungen - gerade auch für Europa und die Nato.

Aufgeteilte Welt

Erstmals wird ein militärisches Oberkommando für die Verteidigung Nordamerikas (NORTHCOM) eingerichtet. Geographisch zuständig ist es von Mexiko im Süden bis nach Alaska im Norden. Hinzu kommen Seegebiete, die je 500 Meilen weit in den Pazifik und den Atlantik hineinreichen. Dazu gehören auch Teile der Karibik einschließlich Kubas. Deutlicher kann die elementare, neue Erfahrung des 11. Septembers ihren Ausdruck militärisch nicht finden: Ein alter amerikanischer Traum, der von der Unverwundbarkeit der USA, ist ausgeträumt. Vorsorge gegen die Verletzlichkeit der Industriegeselllschaft gegen asymmetrische Risiken und Bedrohungen soll auf allen Ebenen getroffen werden. Dem militärischen Schritt entsprechen im zivilen Bereich die Einrichtung eines "Büros für Heimatsicherheit" (Office of Homeland Security) und eines "Heimatsicherheitsrates" (Homeland Security Council) im Weißen Haus sowie die - vorbehaltlich der Zustimmung des Kongresses - für den 1. Januar 2003 geplante Einrichtung eines Ministeriums für Heimatsicherheit (Department of Homeland Security).

Erweitert wird die Zuständigkeit des Oberkommandos Europa (EUCOM). Bislang umfasste es Europa, Afrika außer Nordostafrika, Israel, Syrien und den Libanon sowie die Staaten südlich des Kaukasus und Teile des Atlantiks. Hinzu kommen jetzt der Großteil des restlichen Nordatlantik, große Teile des Südatlantiks und vor allem Russland. Russland fällt damit zu ersten Mal in den Zuständigkeitsbereich eines spezifischen regionalen Oberkommandos, eine Zuordnung, die deutlich widerspiegelt, dass Washington Moskau nicht mehr als Supermacht betrachtet, aber auch nicht mehr primär als Feindstaat sieht.

Größer wird auch der Zuständigkeitsbereich des Pazifischen Oberkommandos (PACOM). Indien, Südostasien, China, die beiden koreanischen Staaten, Japan und Australien gehörten schon lange dazu. Jetzt kommt die Antarktis hinzu. Diese blieb bislang - auch als Folge des Antarktisvertrages - aus der Zuständigkeit aller regionalen Oberkommandos ausgeklammert. PACOM soll EUCOM bei der Zusammenarbeit mit Russland im fernöstlichen Militärbezirk unterstützen.

Unverändert bleiben das Southern Command (SOUTHCOM) mit Zuständigkeit für Mittel- und Südamerika sowie das Central Command (CENTCOM) mit seiner Zuständigkeit für Nordostafrika, den Persischen Golf, Zentralasien und Pakistan, also jene Regionen, in denen die größten Ressourcen an fossilen Energieträgern lagern. Asien bleibt unverändert auf zwei regionale Oberkommandos aufgeteilt. Hier sieht Washington in der näheren Zukunft das größte Risiko des Entstehens neuer Krisen und Konflikte.

Nur kleinere Veränderungen wurden zunächst für die funktionalen Oberkommandos verkündet. Das erst 1999 eingerichtete Joint Forces Command (JFC) gibt seine bislang noch bestehende territoriale Zuständigkeit für den Atlantik, wie schon zu Zeiten der Regierung Clinton vorgesehen, endgültig ab, ebenso die Zuständigkeit für die Verteidigung Nordamerikas, mit der es zwischenzeitlich nach dem 11. September betraut worden war. Es soll künftig als Spezialkommando für Zukunftskonzepte und teilstreitkraftübergreifende Operationen dienen. Unverändert bleiben die Zuständigkeiten des Oberkommandos der Spezialkräfte (SOCOM) und des Transportkommandos (TRANSCOM).

Sorgenfalten in Brüssel

Post zu den neuen Kommandostrukturen erhielt kürzlich auch George Robertson, der Nato-Generalsekretär. Der US-Präsident bat ihn darum, den Oberbefehlshaber des Nato-Oberkommandos Atlantik, SACLANT, ab Oktober 2002 von seinen Nato-Aufgaben zu entbinden, damit dieser sich ganz auf die Aufgaben als Befehlshaber des Joint Forces Commands konzentrieren könne. Dessen Stellvertreter solle übergangsweise die Tagesarbeit übernehmen, bis im Rahmen der laufenden Überarbeitung der Nato-Kommandostrukturen eine dauerhafte Lösung für die Zukunft gefunden sei.

Hinter der Bitte Washingtons steckt mehr. ACLANT, das Atlantik-Kommando der Nato, ist aus Sicht des Pentagons nicht länger erforderlich. ACLANT aber ist nicht irgendein Kommando, sondern gleichberechtigt mit dem Nato-Oberkommando Europa eine der beiden höchsten Kommandobehörden der Allianz. ACLANT ist der wichtigste militärische Brückenkopf der Nato auf dem amerikanischen Kontinent. Es hat bedeutende Zuständigkeiten. Es soll unter einheitlichem Befehl die Seewege über den Atlantik sichern. Deshalb unterstehen ihm auch die Kräfte der US-Flotte im Atlantik. Und es befehligt die auf U-Booten stationierten, strategischen Nuklearstreitkräfte der USA und Großbritanniens, falls diese in einer Krise der Nato zugeordnet werden sollten.

Kleine Nato-Stützpunkte gefährdet

Mithin: Es hätte gravierende Folgen für die Nato, wenn deren Oberkommando Atlantik letztlich aufgelöst oder auch nur in seiner Bedeutung deutlich heruntergestuft werden sollte. Verabschiedet sich Washington aus der gemeinsamen Sicherung der Seewege über den Atlantik? Oder schafft es sich nationale Parallelstrukturen und -zuständigkeiten, die im Ernstfall auch ohne die Nato agieren können? In beiden Fällen wäre ein erheblicher Einflussverlust für die Nato die Folge. Das einzige große Nato-Hauptquartier auf dem Boden der USA ginge verloren. Die Existenz der kleineren Nato-Hauptquartiere für den westlichen Atlantik wäre ebenfalls gefährdet. Die Zukunft der strategische Nuklearkomponente der Nato wäre neu zu regeln, ebenso wie die Zuständigkeit dafür.

Mancher in Brüssel fragt sich deshalb besorgt, ob Washington nur eine bessere Heimatverteidigung oder eine verteidigungspolitische Autarkie anstrebt oder ob die Regierung Bush gar letztlich noch weiter geht und auf eine partielle Abkopplung von Europa zielt. Will die Regierung Bush Europas Einflussmöglichkeiten über die Nato auf die Sicherheitspolitik der USA reduzieren oder gar ausschalten?

Auch die Nato hat mit der Arbeit an einer neuen Kommandostruktur begonnen. Während des Prager Nato-Gipfels im November sollen erste Pflöcke eingeschlagen werden, bis zum Juni 2003 soll sie vorliegen. Ein schier unmöglich erscheinendes Unterfangen. Denn der Nato-Gipfel soll auch entscheiden, welche neuen Mitglieder das Bündnis aufnehmen wird. Damit stehen deren Ansprüche, künftig Teile der Nato-Kommando-Struktur zu beherbergen, gleich mit auf der Tagesordnung. Eine komplexe Aufgabe und eine komplizierte dazu. Denn mitbedacht werden will auch, dass - so jedenfalls die deklarierte Absicht - die neu zu entwickelnden Strukturen auch mit jenen kompatibel sind, die die Europäische Union für die Implementierung ihrer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik benötigen wird. Noch komplizierter wird die Aufgabe jetzt durch die nationalen Entscheidungen Washingtons zu seiner eigenen Kommandostruktur.

Da mag es kaum verwundern, dass mancher in Brüssel inbrünstig hofft, in der Diskussion mit den 18 anderen Nato-Staaten werde Washington seine Meinung im Blick auf das Oberkommando Atlantik doch noch einmal ändern - schließlich sei ja eine Lösung im Konsens zu finden. Doch die Karten dafür aber sind schlecht verteilt. Denn erstens müsste Washington eine bereits getroffene, nationale Entscheidung revidieren, zweitens hat es der Nato die Diskussion mit seiner Entscheidung verordnet und drittens muss Brüssel der US-Diskussion hinterhereilen.

Neues militärisches Machtzentrum

Ende Juni fällte Washington eine weitere wichtige Entscheidung. Zwei der wichtigsten funktionalen Oberkommandos werden zusammengelegt. Das Weltraumkommando (SPACECOM), mittlerweile auch zuständig für die Informationskriegsführung, und das Oberkommando der Strategischen Streitkräfte, (STRATCOM) werden integriert. SPACECOM zieht von der Luftwaffenbasis Peterson in Colorado zu STRATCOM nach Offut Air Force Base in Nebraska um. Die Luftwaffenbasis Peterson beherbergt künftig das neue regionale Oberkommando NORTHCOM, zuständig für die Verteidigung Nordamerikas.

Das neue strategische Oberkommando in Offut erhält weitreichende Zuständigkeiten. Hier werden alle militärischen Elemente der neuen strategischen Triade, des strategischen Instrumentariums der USA, unter einem Dach zusammengefasst: Die Kontrolle über die Satellitensysteme der USA, die Frühwarnung und Verteidigung gegen Raketenangriffe - also auch das Raketenabwehrprogramm der USA - und die Verantwortlichkeit für konventionelle wie nukleare Angriffsoperationen großer Reichweite. Was zunächst als Verschlankung und Rationalisierung von amerikanischen Befehlsstrukturen dargestellt wird, ist zugleich etwas anderes: Die Zusammenführung zweier schon jetzt sehr mächtiger Teilstrukturen der US-Streitkräfte unter einem Dach. Geschaffen wird so ein neues, ausgesprochen starkes militärisches Machtzentrum, das die künftige Militärpolitik Washingtons ebenso entscheidend mitprägen wird wie die Auseinandersetzung ums Geld.

Nukleare Angriffsoptionen

Mehr noch: Mit dem neuen strategischen Oberkommando wird einer der entscheidenden und umstrittenen Grundgedanken der jüngsten Überprüfung der Nuklearstrategie und -streitkräfte der USA, des Nuclear Posture Review, erstmals umgesetzt. Defensive und offensive Elemente werden ebenso integriert wie konventionelle und nukleare Angriffsoptionen. Als strategisch erachtete Bedrohungen der USA - wie z. B. durch Staaten oder nichtstaatliche Akteure, die über Massenvernichtungswaffen verfügen - sollen künftig von einem einzigen, mit allen erforderlichen Kompetenzen ausgestatteten Oberkommando bearbeitet werden, dem eine möglichst breite, flexible Reaktionspalette zur Verfügung steht. Es soll sowohl Abwehrmaßnahmen gegen einen drohenden Angriff koordinieren und durchführen als auch Vergeltungsangriffe planen können.

Zudem soll es in der Lage sein, sogenannte präemptive Angriffe durchzuführen, Angriffe, die verhindern sollen, dass die Vereinigten Staaten überhaupt angegriffen werden können. Dabei ist es gleichgültig, ob der potenzielle Angreifer ein Staat ist oder ob es sich um einen nichtstaatlichen Akteur wie z. B. eine internationale Terroristengruppe, religiöse Extremisten oder einen zur Gewalt greifenden internationalen Konzern handeln würde.

Vereinfacht: Washington will zuschlagen können, bevor es getroffen wurde. Die Administration George W. Bush's hat für solche Angriffe jüngst den Begriff der "defensiven Intervention" geprägt. Damit deutet sich an, dass die USA das Selbstverteidigungsrecht des Völkerrechts künftig sehr weit auslegen und die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit eines Krieges weitgehend von der UN in New York nach Washington verlegen werden. Im Frühherbst sollen diese Überlegungen in ein öffentliches Regierungsdokument münden, in eine neue "Nationale Sicherheitsstrategie".

Besondere Besorgnis ruft auch die Tatsache hervor, dass präemptive, nukleare Angriffe explizit nicht ausgeschlossen werden. Das Argument: Viele potenzielle Ziele, äußerst tief unter der Erde oder in Gebirgen gelegene Bunker zum Beispiel, können mit konventionellen Waffen nicht gesichert zerstört werden. Nuklearwaffen, wahrscheinlich auch speziell zu entwickelnde, neue Nuklearwaffen, seien gegen solche Ziele das einzig probate Mittel. Atomare Angriffe gegen solche Ziele aber könnten - Terroristen haben kein Staatsterritorium - auch gegen nicht-nukleare Staaten erfolgen. Wieder hätte das internationale Recht das Nachsehen. Natürlich, so argumentiert die Regierung Bush, seien Nuklearwaffen das letzte Mittel, dann, wenn kein anderes Erfolg verspreche. Gerade deshalb sei es so wichtig, dass ein einziges Oberkommando zuständig werde und zwischen beiden Möglichkeiten abwägen könne. Doch während die Regierung argumentiert, dies verringere die Wahrscheinlichkeit, dass nukleare Waffen zum Einsatz kämen, sehen das deren Kritiker genau umgekehrt: Der Unterschied zwischen konventionellen und nuklearen Operationen werde verwischt. Nukleare Waffen würden zu "normalen" Instrumenten der Kriegführung und damit steige die Wahrscheinlichkeit, dass sie - weil wirksamer - auch eingesetzt würden. Bis zu 2200 strategische Atomwaffen in den aktiven Streitkräften und 2400 zügig reaktivierbare Reservesprengköpfe wollen die USA nach dem neuen Rüstungskontrollabkommen mit Rußland auch langfristig behalten.

Die Bush-Revolution und Europa

Wieviel Europa brauchen die USA? Wie reagiert Europa auf die von den USA angestoßene neue Debatte über die Zukunft der Nato? Wie reagiert Europa auf das neue Konzept der Abschreckung, auf die Entscheidung Washingtons, Terrorismus und Proliferation als Interventionsgründe zu betrachten und über eine Doktrin "der Grenzen der Souveränität" - wie es Richard N. Haas, der Direktor der Planungsabteilung des US-Außenministeriums, kürzlich nannte - nachzudenken?

Drei europäische Reaktionsweisen

Schon diese wenigen Fragen zeigen, dass hinter scheinbar militärisch-technischen Entscheidungen zur Zukunft der militärischen Kommandostruktur der USA unausweichliche, hochpolitische Fragen und Richtungsentscheidungen lauern.

Drei europäische Reaktionsweisen sind bislang charakteristisch. Die europäische Politik reagiert defensiv und ohne erkennbare Alternativ-Konzepte. Sie agiert nach dem Prinzip Hoffnung "Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wurde". Und sie reagiert oft mit einer falschen Kritik: Sie wirft den USA Unilateralismus vor.

Doch Unilateralismus ist es nicht, was die gegenwärtige US-Administration umtreibt. Die Regierung Bush hält es schlicht im nationalen Interesse für unverzichtbar, bestehende Beschränkungen der amerikanischen vor allem militärischen Handlungsfreiheit abzubauen, um künftig flexibler vorgehen zu können. Rüstungskontrollverträge, die das Ausspielen eigener militärischer Stärken behindern, werden aufgegeben oder gar nicht erst abgeschlossen. Völkerrechtliche Regeln, die wie die UN-Charta kaum oder keinen Spielraum für militärische Interventionen gegen Terrorismus und Proliferation lassen, müssen geändert oder durch die eigene Praxis außer Kraft gesetzt werden. In Bündnissen und Allianzen, die anderen Mitspracherechte über die Politik Washingtons garantieren, muss klargestellt werden, dass sie amerikanisches Handeln nicht blockieren dürfen und mitmachen sollten, wenn sie nicht ins Abseits gestellt werden wollen.

Als "Multilateralismus a la carte" hat Richard N. Haas diese Herangehensweise bezeichnet. Man prüfe in jedem Einzelfall, ob historische multilaterale Bindungen noch den eigenen Interessen entsprechen. Sicherheitspolitik ist in diesem Verständnis eine militärische Gestaltungsaufgabe, mithin nicht primär an Stabilität, sondern an Veränderung interessiert. Dazu müssen hinderliche Regeln einer alten Weltordnung abgerissen und vielleicht künftig durch neue, auf Vorgaben aus Washington fußende Regeln ersetzt werden. Bis dahin dient - und dies wäre der Kern einer gerechtfertigten Kritik - die von der Bush-Administration praktizierte Deregulierung der internationalen Beziehungen vor allem einem - dem Stärkeren.

Auf diese Entwicklungen reagiert Europa erstaunlich defensiv, ohne erkennbare Alternativkonzepte und offensichtlich vorrangig in der Hoffnung, doch noch bremsen zu können. Es verwundert, dass aus Europa keine Vorschläge für eine effizientere Nichtverbreitungspolitik kommen. Es ist kaum verständlich, dass die europäischen Staaten im Blick auf die vorrangig nicht-militärisch zu führende Bekämpfung des Terrorismus mit ihren eigenen Beiträgen so defensiv umgehen. Und vor allem irritiert, dass die europäischen Nato-Staaten aus der Tatsache, dass der Sicherheitspolitik ein erweiterter Begriff der Sicherheit zu Grunde zu legen ist, nicht schlussfolgern, dass die Beiträge zur transatlantischen Lastenteilung künftig ebenfalls nach erweiterten Kriterien bemessen werden müssen.

Anzeichen der Lähmung

Nicht allein Fähigkeiten zu militärischer Kriegführung und Ausgaben für militärische Zwecke, sondern alle Aufwendungen für eine Sicherheitspolitik, die sich als Gestaltung von künftiger Weltordnung versteht, müssten dabei herangezogen werden. Europa hätte auch allen Grund, mit konstruktiven Konzepten und Vorschlägen aufzuwarten, die der Stärkung internationaler Organisationen, des Multilateralismus und der Multipolarität dienen. Nur - diese bleiben aus. Mithin - das politische Washington neigt immer mehr zu der Schlussfolgerung, dass Europa weder politisch noch militärisch ein ernsthafter Partner bei der Gestaltung von Weltordnung sein will, dass Europa sich der Übernahme globaler Verantwortung entzieht. Die Passivität der europäischen Staaten muss umso mehr erstaunen, da die Politik der Regierung Bush dem Prinzip der europäischen Integration - der zunehmenden Verrechtlichung internationaler Beziehungen - zuwiderläuft und die Grundinteressen europäischer Außen- und Sicherheitspolitik, Multilateralismus und Multipolarität, immer deutlicher negiert.

Frankfurter Rundschau 2002
Erscheinungsdatum 15.07.2002